Statistik und Deportation
der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich

Die Deportation der jüdischen Bevölkerung aus den zum Altreich gehörenden Stadtkreisen Beuthen, Gleiwitz und Hindenburg sowie den Landkreisen Beuthen-Tarnowitz und Tost-Gleiwitz des am 1.11.39 neugebildeten Regierungsbezirks Kattowitz unterschied sich in mehrfacher Hinsicht von den Deportationen aus dem übrigen Deutschen Reich. So fanden die "Richtlinien zur technischen Durchführung der Evakuierung von Juden in das Generalgouvernement (Trawniki bei Lublin)" bzw. "nach dem Osten (Izbica bei Lublin)", die im ersten Halbjahr 1942 vom RSHA erlassen wurden mit dem Vermerk, dass diese "in allen Punkten genau einzuhalten sind", bei den im Mai und Juni 1942 in vielen kleineren Transporten durchgeführten Deportationen aus Ostoberschlesien keine Anwendung. Weder wurde die vorgeschriebene Transportstärke von 1000 Personen eingehalten, noch wurden die nach den Richtlinien von der Deportation ausgenommenen Personenkreise wie Menschen im Alter von über 65 Jahren und z.T. auch die in Mischehe lebenden Juden (vorerst) verschont.


So weist Justizrat Adolph Kochmann, Leiter der Verwaltungsstelle Gleiwitz der Bezirksstelle Schlesien der Reichsvereinigung, in einem Schreiben vom 21.5.42 an den Leiter der Berliner Zentrale, Dr. Paul Eppstein, darauf hin, "daß hinsichtlich der Altersgrenzen, die für das Altreich bei den Abwanderungen sonst eingehalten werden, das Ergebnis der Besprechung insofern ein negatives war, als erklärt wurde, daß die Entscheidung darüber den örtlichen Behörden zustände." Weiter schreibt er: "Wir bedauern im Interesse unserer Mitglieder, daß, obwohl die Stadt Gleiwitz zum Altreich gehört, nicht Bestimmungen zur Anwendung gelangten, die für dieses Gebiet sonst zu beachten sind. Wir würden Ihnen dankbar sein, wenn Sie nochmals den Versuch machen könnten, in dieser Beziehung etwas zu erreichen." [ZIH 112/131]


In einem Brief an Erwin Schohan aus Berlin, der sich nach seiner Mutter, der 81jährigen Rosa Schohan aus Gleiwitz, erkundigte, schreibt Adolph Kochmann am 28.5.42: "Ihnen dürfte bekannt geworden sein, daß auch in Oberschlesien in der letzten Zeit Abwanderungen erfolgt sind, bei denen, soweit es sich um die zum Regierungsbezirk Kattowitz gehörigen Gemeinden Beuthen-Gleiwitz-Hindenburg handelt, leider nicht die Bestimmungen, die bezüglich der Altersgrenzen sonst für das Altreich gelten sollen, beachtet worden sind. Ihre Frau Mutter gehörte deshalb auch zu denen, die bei der zweiten Abwanderung seitens der zuständigen Behörde aufgerufen waren." [ZIH 112/161] Älteste Transportteilnehmerin in Gleiwitz war Sabine Goldberg, die fünf Tage nach ihrem 94. Geburtstag deportiert wurde [ZIH 112/53].


Die Einzeltransporte aus Beuthen und Gleiwitz sind gut dokumentiert, zu Hindenburg fehlen dagegen jegliche Aufzeichnungen. Für Beuthen bekannt ist ein "Namensverzeichnis aller aus Beuthen O/S ausgesiedelten Juden" in einer Abschrift aus dem Archiv des ITS. Enthalten sind die Namen von 969 Menschen mit letzter Adresse in Beuthen und 12 Menschen im Landkreis Beuthen-Tarnowitz, davon 8 aus Klausberg, 2 aus Birkenhain und je 1 aus Bobrek-Karf und Mechtal. Die Liste enthält neben den Angaben zu den insgesamt zehn zwischen dem 14.5. und 29.6.42 abgegangenen Einzeltransporten auch handschriftliche Vermerke zur vermutlichen Zwischenstation im ehemals polnischen Teil des Regierungsbezirks Kattowitz (14.5./20.5. Sosnowitz, 16.5./28.5. Bendsburg, 18.5. Dombrowa, 2.6. Krenau, 13.6. Bukowno, 15.6. Ilkenau, 23.6. Krzepice, 29.6. Bielitz).

Beuthen - Gleiwitz - Hindenburg nach Auschwitz

Abfahrtsdatum: 14.05.-29.06.42, Deportierte: 1961

Der erste Transport verließ Gleiwitz am 16.5.42 mit den 65 Bewohnern der "Judenhäuser" Oberwallstr. 14 und Bahnhofstr. 4. Von den folgenden Transporten am 20.5., 28.5. und 8.6. ist bekannt, dass sich die Betroffenen am Abend vor der Deportation im Polizeipräsidium einzufinden hatten und dort die Nacht verbrachten, bevor sie am nächsten Morgen weggebracht wurden [ZIH 112/131]. Im Juni gab es am 15.6., 23.6. und 29.6. drei weitere Transporte aus Gleiwitz. Entsprechend den Angaben auf den Listen der beiden letzten Deportationen hatten sich die Menschen am Morgen des Abtransports im Polizeipräsidium einzufinden, wobei die Mitnahme von 10 kg Gepäck (Rucksack) sowie von Verpflegung für zwei Tage erlaubt waren [ZIH 112/53]. Nach dem letzten Abtransport vom 29.6.42 waren noch 42 Gemeindemitglieder, einschließlich der in Mischehe lebenden, in Gleiwitz zurückgeblieben [ZIH 112/15o]. In einem Schreiben vom 6.7.42 stellte Adolph Kochmann fest: "Die hiesige Gemeinde ist, ebenso wie die Nachbargemeinden Beuthen und Hindenburg, zur Auflösung gelangt." [ZIH 112/161]


Eine Reihe von Transportlisten ist im Bestand Gemeinde Gleiwitz des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau erhalten geblieben. Hierzu gehört eine "Liste der evakuierten Juden", die alle sieben Gleiwitzer Transporte einschließt und als Vorlage der Arbeiten von Ernst Lustig [ZIH 112/166, siehe auch hier] und Karol Jonca [Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka, 46, 219-249] diente. Die von der Gestapo erstellte Liste liegt für die Namen mit den Anfangsbuchstaben A-O (Blatt 1-14) im Original vor. Bei den folgenden drei Blättern mit den Namen P-Z handelt es sich um eine Nachkriegsabschrift, die eine große Zahl von Fehlern aufweist, die z.T. in der Literatur übernommen wurden. Ein genauer Abgleich mit weiteren im Original vorhandenen Transportlisten lässt den Schluss zu, dass im Mai und Juni 1942 insgesamt 576 Menschen aus Gleiwitz deportiert wurden. Hinzu kamen aus dem Landkreis Tost-Gleiwitz (Altreichsgebiet) 29 Deportierte, davon 14 aus Tost, 11 aus Peiskretscham und 4 aus Langendorf [ZIH 112/144]. Nachfolgend abgebildet sind die "Liste der in der Zeit vom 16. bis 28. Mai 1942 evakuierten Juden" mit den Namen der 367 im Mai 1942 deportierten Gleiwitzer Juden sowie Blatt 1-14 der beschriebenen "Liste der evakuierten Juden". Die Dokumente befinden sich im Żydowski Instytut Historyczny, Bestand 112/53.

Nach den Erinnerungen des späteren Gleiwitzer Vertrauensmannes der Reichsvereinigung Erich Schlesinger wurden die zur Deportation bestimmten Menschen mit Autos weggebracht [Leo Baeck Institute, AR 151, siehe hier]. Bekannt ist, dass der Gleiwitzer Transport vom 28.5. über Bendsburg geleitet wurde [ZIH 112/131] und der vom 23.6. über Krzepice [ZIH 112/53]. Auch die Beuthener Transporte vom 28.5. und 23.6. wurden über Bendsburg bzw. Krzepice geleitet. Es kann daher angenommen werden, dass die aus Beuthen, Gleiwitz und Hindenburg Deportierten zunächst zu den gleichen Zwischenstationen im ehemals polnischen Teil Oberschlesiens gefahren wurden. Diese sind aus der Beuthener Liste vollständig bekannt (siehe oben). Sosnowitz und Bendsburg z.B. waren nur knapp 20 km von Beuthen und 40 km von Gleiwitz entfernt, Krzepice 90 km. Es handelt sich um Orte, aus denen im Mai und Juni 1942 Tausende Menschen nach Auschwitz deportiert wurden, so beispielsweise am 14.5. aus Sosnowitz und am 16.5. aus Bendsburg [W. Curilla, Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939-1945, Paderborn 2011, S. 146]. An beiden Tagen sind nach der Beuthener Liste auch von dort Juden über Sosnowitz und Bendsburg "ausgesiedelt" worden. Es ist davon auszugehen, dass die aus dem zum Altreich gehörenden Teil Oberschlesiens herangebrachten Juden in die Massentransporte nach Auschwitz eingereiht wurden.


Weder der Gleiwitzer Gemeinde noch der Zentrale der Reichsvereinigung war der letztendliche Zielort der Deportation bekannt. Dies geht aus Schreiben hervor, mit denen Adolph Kochmann auf Anfragen nach dem Verbleib von Gleiwitzer Juden antwortete [ZIH 112/33]. Bei den Transporten vom 16.5. und 20.5. wurde noch angenommen, dass die Deportierten zunächst nach Theresienstadt gebracht worden sind [ZIH 112/131]. Am 25.9.42 wandte sich Adolph Kochmann an die Berliner Zentrale: "Über das Schicksal der Abgewanderten sind bisher keinerlei Nachrichten zu uns gelangt. Da aus Berlin, Breslau und anderen Gemeinden die über 65 Jahre alten Personen nach Theresienstadt gebracht sein sollen, haben wir die Hoffnung, daß auch Mitglieder unserer Gemeinde dorthin gelangt sind." In ihrer Antwort vom 5.10.42 wird durch die Zentrale der Reichsvereinigung jedoch mitgeteilt: "Der derzeitige Aufenthalt der im Mai und Juni aus Oberschlesien Abgewanderten ist uns bisher nicht bekannt." [ZIH 112/131]


Die Gesamtzahl der in diesen beiden Monaten aus Beuthen, Gleiwitz, Hindenburg und den Nachbargemeinden deportierten Juden kann mit Hilfe der Statistik der Reichsvereinigung ermittelt werden. Im Mai 1942 wurden für den Regierungsbezirk Kattowitz (Altreichkreise) 693 Deportierte registriert. Im Juni 1942 fehlt die Angabe für Kattowitz. Insgesamt wurden 1219 Deportierte aus Schlesien registriert, davon 1 aus dem Regierungsbezirk Oppeln. Da aus Niederschlesien keine Transporte im Juni abgegangen sind, kann die Zahl der Deportierten aus dem Regierungsbezirk Kattowitz mit 1218 ermittelt werden. Im Juli 1942 wurden aus diesem noch einmal 50 Deportierte registriert. Es ist aufgrund der Sonderstellung des Gestapobezirks Kattowitz hinsichtlich der Durchführung der Deportationen allerdings anzunehmen, dass es sich hierbei um eine Nachmeldung für die Vormonate handelte, zumal auch aus dem zuvor erwähnten Schreiben der Reichsvereinigung entnommen werden kann, dass die Transporte aus Oberschlesien in den Monaten Mai und Juni 1942 erfolgt sind.


Die folgende Aufstellung der jüdischen Bevölkerungszahlen für Oberschlesien (Altreichkreise) [ZIH 112/15o, BA R 8150/29] unterstützt diese Annahme. Ausgehend von den bekannten Deportationszahlen für Beuthen, Gleiwitz sowie die Landkreise Beuthen-Tarnowitz und Tost-Gleiwitz kann die bisher unbekannte Zahl der Deportierten aus Hindenburg unter Einbeziehung der Nachmeldung vom Juli 1942 mit 375 abgeschätzt werden. Dies waren 88% der jüdischen Bevölkerung von Hindenburg nach dem Stand vom 1.1.1941 (zum Vergleich: Beuthen 88%, Gleiwitz 83%).

Im Folgenden wird der Versuch einer Rekonstruktion der Namensliste der Deportierten aus Hindenburg unternommen. Grundlage hierfür sind, aufgrund der fehlenden zeitgenössischen Unterlagen, die Angaben zu den jüdischen Einwohnern zum Zeitpunkt der Volkszählung vom 17.5.39, die im Rahmen des Projekts "Mapping the Lives" veröffentlicht wurden (siehe hier), unter Berücksichtigung der nachfolgend bekannten Sterbefälle, Wegzüge, Emigrationen und Deportationen. Eine große Unterstützung bei der Rekonstruktion bietet die Datenbank "Juden in Zabrze" des Stadtmuseums Zabrze (siehe hier), die zugleich eine Korrektur der z.T. fehlerhaften Personendaten aus den Unterlagen der Volkszählung ermöglicht (Hinweis von Piotr Hnatyszyn, Stadtmuseum Zabrze). Insgesamt können auf dieser Basis die Namen von 368 Juden ermittelt werden, von denen mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass sie 1942 aus Hindenburg deportiert worden sind.

Stadt- und Landkreise im

Jüdische Bevölkerung

Deportationen

Jüdische Bevölkerung

Regierungsbezirk Kattowitz

am 1.1.1941

im Mai/Juni 1942

am 1.11.1942






 Stadtkreise

Beuthen [1]

1106

973

51


Gleiwitz

692

576

77


Hindenburg

425

(375)

37

 Landkreise

Beuthen-Tarnowitz





         Klausberg

8

8

9


         Randsdorf

0

0

1


Tost-Gleiwitz





         Kressengrund

1

0

1


         Laband

1

0

1


         Langendorf

5

4

0


         Peiskretscham

18

11

5


         Tost

13

14

3







Gesamt

2269

1961

185

[1] Einschließlich Birkenhain, Bobrek-Karf und Mechtal (Landkreis Beuthen-Tarnowitz) mit 4 Deportierten am 23.6.42.

16.5.-28.5.42

16.5.-29.6.42

Mit den Transporten vom Mai und Juni 1942 wurden die Juden aus dem altdeutschen Teil des oberschlesischen Regierungsbezirks Kattowitz einschließlich der Alten und Kranken fast geschlossen abtransportiert. Die vom RSHA für die Gestapostellen des Altreichs erlassenen Anweisungen zur Deportation der jüdischen Bevölkerung wurden hierbei, im Unterschied beispielsweise zum oberschlesischen Regierungsbezirk Oppeln, mit Duldung des RSHAs nicht berücksichtigt, was vermutlich auch darauf zurückgeführt werden kann, dass sich die zuständige Staatspolizeileitstelle Kattowitz im ehemals polnischen Gebiet und nicht im Altreichsgebiet befand. Spätere Transporte alter Juden nach Theresienstadt fanden dadurch, im Gegensatz zu allen anderen Regionen Deutschlands einschließlich des Regierungsbezirks Oppeln, nicht mehr statt. Auch Transporte in den "Osten" waren nur noch vereinzelt feststellbar, so der in Gleiwitz verbliebenen Juden, die im Rahmen der Fabrikaktion abtransportiert wurden (siehe hier).

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