Statistik und Deportation
der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich

Abtransport aus Schneidemühl

22.02.-19.08.40

Am 17.2.40, unmittelbar nach der Deportation aus Stettin am 13.2. und der Versicherung durch Eichmann in der Besprechung vom 15.2., dass es sich bei den Maßnahmen von Stettin um eine Ausnahme handelte (siehe hier), sahen sich hochrangige Vertreter der Reichsvereinigung gezwungen, wegen Deportationsvorbereitungen in Schneidemühl beim RSHA vorzusprechen. Unter dem Betreff "Angekündigter Abtransport der Juden aus der Grenzmark" wird in einer Aktennotiz festgehalten, dass dem Vertreter des RSHA "von dieser Massnahme nichts bekannt sei, dass im übrigen der Abtransport nicht ohne Genehmigung des Reichssicherheitshauptamtes erfolgen könnte und daher eine Rückfrage bei der Staatspolizei Schneidemühl erfolge." Im Zusammenhang mit der Besprechung vom 15.2. bat die Reichsvereinigung um Aufhebung der Maßnahme: "Es sei durch diesen Abtransport eine ausserordentliche Beeinträchtigung der Auswanderungsbemühungen zu befürchten..." Zugleich wurde darauf hingewiesen, dass die Reichsvereinigung "bereit und in der Lage sei, Juden aus bestimmten Bezirken, sofern diese aus militärischen Gründen evakuiert werden müssten, in anderen Teilen des Altreichs unterzubringen. Es wird auf das Beispiel des Bezirks Wilhelmshaven verwiesen und auch für den Bezirk Schneidemühl eine andere Unterbringung als möglich erachtet, wenn aus besonderen Gründen eine Evakuierung dieses Bezirks erfolgen müsste." [Leo Baeck Institute, Walter und Johanna Rischowsky Collection, siehe hier]


Ungeachtet der Vorsprache der Reichsvereinigung erfolgte am 21.2.40 die Zusammenziehung der Juden aus den 25 selbständigen Kultusvereinigungen des Regierungsbezirks Schneidemühl. In einer für das RSHA angefertigten Aufstellung zur "Verteilung der bisher in Schneidemühl bezw. im Durchgangslager Glowno (Posen) untergebrachten Juden aus dem Regierungsbezirk Schneidemühl" werden Einzelheiten zum weiteren Verbleib der Menschen mit Stand vom 9.4.40 gegeben: "Am 21. Februar 1940 wurden die im Regierungsbezirk Schneidemühl wohnhaften Juden im Ort Schneidemühl gesammelt und im Gemeindehaus sowie in der jüdischen Leichenhalle notdürftig untergebracht. Es handelte sich um insgesamt 544 Personen. Am 22. Februar wurden 104 Personen nach Neuendorf überführt. Von diesen kamen zum Forsteinsatz 25 Personen, in Heime und Pflegeanstalten 16 Kinder, ins Krankenhaus 3 Kinder, ins Altersheim Friedenstr. 15 Personen, ins Siechenheim Lichterfelde 2 Personen, in die Sammelpflegestelle Elsasserstrasse 3 Personen; in Neuendorf befinden sich 40 Personen. Am 27. Februar wurden mit einem Krankentransport 17 Personen in das Siechenheim Lichterfelde verbracht. Es sind davon 4 Personen verstorben. Am 11. März wurden 165 Personen in das Durchgangslager Glowno b/Posen abtransportiert. Diese wurden am 2.4. und 6.4. aus Glowno entlassen, und zwar nach Neuendorf 65 Personen, nach Radinkendorf 45 Personen, in ein Heim in Bielefeld 38 Personen, in das Altersheim Friedenstrasse 7 Personen, in das Siechenheim Berlin-Lichterfelde 4 Personen, in Pflegestellen Berlin 2 Kinder, in Glowno verstorben 3 Personen, im Krankenhaus Posen verblieben 1 Person. Aus Schneidemühl sind am 4. April 49 Personen verbracht worden, und zwar sind 22 Kinder in Heime und Pflegestellen in Berlin, 27 Erwachsene nach Radinkendorf gekommen. Zur Einzelentlassung kamen (vor allem ins Krankenhaus) 6 Personen, in Schneidemühl verstorben sind 4 Personen. Es befinden sich noch in Schneidemühl 199 Personen." [BA R 8150/483]


Der Teiltransport vom 11.3.40 aus Schneidemühl in das Durchgangslager Glowno bei Posen führte, nach Berichten in der Auslandspresse über eine Deportation in den Distrikt Lublin, zu einer Stellungnahme Eichmanns gegenüber dem Auswärtigen Amt, in der dieser zunächst den Wohnungsmangel in Schneidemühl, "hervorgerufen durch die überaus starke Inanspruchnahme der Stadt von Seiten der Wehrmacht", als Grund für den Abtransport nach Posen angab, aber mit keinem Wort erwähnte, dass Juden aus dem gesamten Regierungsbezirk im Ort zusammengezogen waren. Nach Eichmann kam jedoch "ein Abtransport dieser Juden in das Generalgouvernement schon deshalb nicht in Frage, weil dies den mit dem Generalgouverneur für die besetzten polnischen Gebiete getroffenen Abmachungen zuwiderlaufen würde und daher eine solche Maßnahme vom RSHA nicht genehmigt werden konnte." Die abgebildeten Protokolle der Reichsvereinigung über Rücksprachen im RSHA vom 13.3. (Blatt 2) und 21.3. (Blatt 3 und 4) enthalten Vermerke zu dem Transport nach Posen. Die Reproduktionen stammen aus der Sammlung Rischowsky, die durch das Leo Baeck Institute online gestellt wurde, siehe hier. Die ebenfalls abgebildete Stellungnahme Eichmanns gegenüber dem Auswärtigen Amt stammt aus den Unterlagen des Eichmann-Prozesses, Dokument T/670.

In den folgenden Monaten kam es nicht nur zum weiteren Abtransport der noch in Schneidemühl verbliebenen Juden, sondern auch zu Umverteilungen zwischen den Aufnahmeorten oder Unterbringungen bei Verwandten, für die von der Reichsvereinigung monatlich Vorschläge beim RSHA eingereicht wurden. Die letzten 29 noch in Schneidemühl befindlichen Juden sollten am 19.8.40 mit dem Zug um 11 Uhr nach Berlin abtransportiert werden. In einem Schreiben vom 26.9.40 teilte der Gemeindevorsitzende Siegfried Sommerfeld der Bezirksstelle Brandenburg-Schneidemühl schließlich mit, "dass die jüdische Gemeinde in Schneidemühl noch aus 6 erwachsenen Personen und 3 Kindern besteht." [BA R 8150/483]


In einer Anlage zum "Schlussbericht" der Reichsvereinigung wird über den Verbleib der in Schneidemühl zusammengezogenen 544 Menschen nach dem Stand vom 23.1.41 berichtet. Demnach waren von den im Februar 1940 erfassten Juden 155 im Landwerk Neuendorf oder in dem am 1.4.40 neu eröffneten Jüdischen Arbeitsheim Radinkendorf untergebracht bzw. befanden sich im Forsteinsatz. 136 Personen befanden sich in Berliner Alters- und Pflegeheimen, 17 im Jüdischen Altersheim Bielefeld, 24 in Berliner Kinderheimen und 28 bei Privatpflegestellen. 37 jüdische Menschen waren im Berliner Flüchtlingsheim untergebracht, 5 im Jüdischen Krankenhaus und 1 in der Heilanstalt Wittenau. Bei Verwandten waren 91 Menschen untergebracht, 10 gelang die Auswanderung. 24 Menschen waren seit Februar 1940 verstorben. Weiterhin wurden 4 nach Berlin zurückgekehrte Ärzte und Pfleger registriert. In Schneidemühl befanden sich noch 5 Juden, darunter das Ehepaar Betty und Siegfried Sommerfeld sowie 3 in Mischehe lebende Personen, ferner 7 nicht als Juden geltende Kinder aus Mischehen. Außer den im Februar 1940 im Sammellager zusammengezogenen 544 Juden wohnte noch 1 jüdische Frau in Mischehe in Schneidemühl, deren 3 jüdisch erzogene Kinder sich in Berlin in Pflege befanden [BA R 8150/483].


Danach verblieben in Pommern nur noch etwa 600 Juden, die vorwiegend im Regierungsbezirk Köslin beheimatet waren. Welche Umstände letztlich dazu führten, dass die Schneidemühler Juden nicht wie ihre Stettiner Leidensgenossen in das Generalgouvernement abtransportiert wurden, lässt sich nur vermuten. Im Protokoll der RSHA-Besprechung vom 30.1.40 zu den geplanten Deportationen in das Generalgouvernement (siehe hier) ist der Abtransport aus dem Regierungsbezirk Schneidemühl im Gegensatz zu dem aus dem Regierungsbezirk Stettin trotz der zeitlichen Parallelität beider Aktionen nicht erwähnt worden. Es ist davon auszugehen, dass die Differenzen zwischen Himmler und dem Generalgouverneur Frank in Bezug auf die "wilden" Vertreibungen verbunden mit den Reaktionen aus dem Ausland nach der Stettiner Aktion sowie nach dem Abtransport von Juden aus Schneidemühl in das Durchgangslager Glowno bei Posen zu dem Erlass Görings beigetragen haben, mit dem dieser am 24.3.40 weitere Deportationen in das Generalgouvernement ohne seine und Franks Genehmigung untersagte.


Die Intervention der Reichsvereinigung (siehe oben) mag keinen Einfluss auf die Gesamtentscheidung gehabt haben, führte jedoch möglicherweise zu einer koordinierteren Ablaufplanung analog den zwischen Januar und März 1940 erfolgten Umsiedlungen innerhalb Deutschlands aus dem Bereich der Gestapostelle Wilhelmshaven (siehe hier), wie von der Reichsvereinigung vorgeschlagen. Für die Juden aus Schneidemühl war dies zunächst ein Glücksumstand, waren die Lebensbedingungen doch unvergleichlich besser als für die Stettiner Juden im Generalgouvernement, deren Sterberate allein 5fach höher lag. Später wurden auch die Schneidemühler von den systematischen Deportationen erfasst und mit den Transporten aus Berlin deportiert, einige wenige auch aus Bielefeld. Aus Schneidemühl selbst wurde im August 1942 noch Betty Sommerfeld nach Theresienstadt verschleppt, die Frau des letzten Gemeindevorsitzenden Siegfried Sommerfeld, der am 22.7.42 in Schneidemühl verstorben war.

Protokolle der RV vom 13.3.40

21.3.40

Auswärtiges Amt, 21.3.40

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Wie aus dem Protokoll vom 21.3. ersichtlich, hatte sich die RV mit Vorschlägen für eine Erweiterung des zuvor erstellten Verteilungsplans innerhalb des Altreichs an das RSHA gewandt, in den auch die im Lager Glowno bei Posen befindlichen Menschen einbezogen werden sollten. Sie wurden schließlich, wie im oben zitierten Bericht der RV vom 9.4.40 angegeben, Anfang April nach Neuendorf, Radinkendorf und in Alters- und Pflegeheime in Berlin und Bielefeld gebracht. 3 Menschen waren zuvor im Lager Glowno verstorben, Sally Tobias am 20.3., Anna Reinstein am 23.3. und Paula Moses am 26.3.40 [M. Rutowska, Lager Glowna. Niemiecki obóz przesiedleńczy na Głównej w Poznaniu dla ludności polskiej (1939-1940), Poznań 2008, S. 59, 69-70]. Sie wurden auf dem jüdischen Friedhof in Schwaningen bei Posen beerdigt, wogegen der dortige Stadtkommissar in einem Schreiben an den Oberbürgermeister von Posen heftig protestierte: "Schwaningen ist judenfrei. Eine jüdische Gemeinde gibt es in Schwaningen nicht. Ich lehne es künftig ab, die überwiesenen Leichen hier anzunehmen und habe Anweisung erteilt, den jüdischen Friedhof geschlossen zu halten. Leichen werden zur Bestattung nicht mehr angenommen werden." [ZIH 233/36]


Nachfolgend abgebildet sind die Listen der drei "Judentransportgruppen", mit denen 161 Schneidemühler Juden aus dem Lager Glowno am 2.4. und 6.4.40 abtransportiert wurden. Die Dokumente befinden sich im Instytut Zachodni, Bestand Dok.I-699 (vgl. M. Rutowska, Wysiedlenia ludności polskiej z Kraju Warty do Generalnego Gubernatorstwa 1939-1941, Poznań 2003; M. Rutowska, Lager Glowna. Niemiecki obóz przesiedleńczy na Głównej w Poznaniu dla ludności polskiej (1939-1940), Poznań 2008).